Entartung

1976/84 (open)

Elektroinstrumentale Musik
Für Bassklarinette, Klanganalysator und Verzögerungsgerät

Mit den Sätzen Abart and Entart

„Abart“ zeigt meine Reaktion auf natürliche Klangprozesse, auf eine romantische Harmonie. Dieser im Moment modische, avantgardistisch interpretierte Geschichtsrückblick, die daraus resultierende Musikform, die Sucht nach Einheit und Wohlklang, scheint eine Lösung im Spätkapitalismus aus ungleichen Kräfteverhältnissen und technologischer Gleichschaltung. Doch formuliert diese Geisteshaltung eine Lüge und einen Trugschluss, da sie Probleme kurzsichtig und kurzfristig zu lösen scheint, gesellschaftliche Entwicklungen durch Ignorieren aber hemmt und nicht konstruktiv auf sie eingeht. „Abart“ meint die Natürlichkeit des Menschen zu befestigen. Sie ist endlich jedoch abartig und zum Abfall verurteilt, weil sie Lösungen vortäuscht.

Die Musik:

Zu Beginn des Kompositionsteils „Abart“ liegt der Instrumentalist auf einer schwarzen Decke auf dem Fußboden. Über ihm ist in Kreuzform die Delamaschine und das Kreuzschienenfeld aufgebaut. Auf einem Mikrophonstativ ist ein digitaler Zähler aufgeschraubt, der es dem Klarinettisten erlaubt, die dem Computer eingegebene Struktur des Delays manuell zu kontrollieren.

„Abart“  behandelt den generativen Entstehungsprozess des Klangs, d.h atmen, schlucken – Luft mit Mundstück, mit Instrument – Lufttremolo, Flatterzungen, Glottischläge u.s.w. Um diese Klänge hörbar zu machen, wird ein Kehlkopfmikrophon eingesetzt.

Die Komposition wird allein auf dem linken und rechten Lautsprecher hörbar gemacht. Die Raumkomposition spielt eine wichtige Rolle. Von Mono bis zu einer Rotation (l, ml, mr, r) verläuft ein musikalischer Prozess. Die Rauschklänge werden außerdem in die 8 Filter gegeben, die von dem Computer wie oben beschrieben gesteuert werden. es entsteht somit ein Kontrast zwischen den von dem Bassklarinettisten improvisatorisch erzeugten Klängen und den vorgeplanten gesteuerten Filterpositionen.

„Entart“, meine Aktion, formuliert die Musik nach funktionellen Grundsätzen. Musik, die eine Funktion erfüllt, indem sie gesellschaftliche und damit kulturelle Realitäten erkennt und sie gebraucht, verwendet Tonalität und Atonalität im gleichen Maße, wie sie das Gesetz der Obertonreihe definiert. Individualität ist ausgeschlossen. Der Komponist bedenkt allein den logischen Prozess. Die Logik ist somit nicht in dem Spannungsfeld Ratio-Emotio zu sehen, sondern formuliert ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen. In einer Zeit, in der wir uns auf dem Sprung von der Industrie- in eine Informationsgesellschaft befinden, sollte die Auseinandersetzung mit dem Computer auch in der Musik vorausgesetzt sein.

 Die Musik:

Die meisten verwendeten musikalischen Abläufe resultieren aus einem Klangprogramm. Dieses Klangprogramm generiert harmonische Konstellationen aus einem Repertoire von 64 Tonhöhen, nämlich 8 Grundtönen und deren 7 Obertöne. Wie bei dem Quintenzirkel berechnet der Computer bis zu

8-stimmige Klänge. Mit diesem harmonischen Gerüst habe, ich die Komposition Entartung gestaltet, habe ich versucht harmonische Abläufe neu zu formulieren. Die Rhythmen sind nach einem eigenen, ästhetischen Geschmack konzipiert.

„Entart“ ist eine Weiterentwicklung von Minimal.

– Zum einen wurde die Looptechnik (in Minimal war es 1 loop) mit einer speziell angefertigten Delaymaschine, die mit 8 Tonköpfen versehen war, weiter entwickelt. In „Entart“ konnten die Bassklänge, live vom Computer geschaltet (siehe switchbox), mit verschiedenen Delayzeiten ausgestattet werden. Zwar blieb es noch bei der analogen Bandtechnik, da das Tonband dann über die 8 Tonköpfe lief, die ein und ausgeschaltet werden konnten. Die Verwendung wurde aber digitalisiert. Man konnte somit genau bestimmen wann und wie lange Delayzeiten ausgeführt werden sollten.

– Waren es bei Minimal die Schwebungen der Bassklarinette, die mit einem Schlagzeug-Transducer hörbar gemacht wurden, in „Entart“ folgte der Computer live den Bassklarinetten-Klängen, detektierte diese mit einem Frequenzdemodulator (FDM) und ließ mit einer Filterbank die live gespielten Obertöne der Bassklarinette hören.

Nach vielen technischen Problemen und dem Fallen des Computers aus dem Flugzug in Tokyo und weiteren Transportproblemen vor der Premiere und während der Tour wurde die Aufführung von Harry Sparnaay nur noch teilweise realisiert. Allein “Abart” konnte stattfinden. Danach wurde “Entartung” theoretisch weiter entwickelt. Eine neue Aufführung fand nicht statt. Es gibt nur vereinzelte Tonaufnahmen von den Proben in Rotterdam. (Die Niederlande).

„Wenn die größten Meister der Musik in der Tonalität und aus dem ganz offenbar germanischen Element des Dreiklangs empfunden und geschaffen haben, dann haben wir ein Recht, diejenigen als Dilettanten und Scharlatane zu brandmarken, die diese Klanggrundsätze über den Haufen schmeißen und durch irgendwelche Klangkombinationen verbessern oder erweitern, in Wirklichkeit entwerten wollen.“

(Staatsrat Dr. Hans Severus Ziegler, Entartete Musik, eine Abrechnung, Düsseldorf, 1938)

Entartung 2

Im Herbst 1984 fand auf Einladung des Goetheinstituts die Premiere der Komposition Entartung 1 in Tokyo und Seoul statt. Obwohl später die europäische Erstaufführung in Budapest ein Erfolg war, war es mir deutlich, dass die Komposition Entartung 1 zwar in der Basisidee schlüssig war, die musikalische und auch technische Ausarbeitung aber nicht stimmte. Technisch arbeitete das Verzögerungsgerät nicht gut, die Synchronität zwischen dem Computer und dem Bassklarinettisten war nicht gewährleistet. Die Umsetzung der Klangprogramme in eine musikalisch verantwortbare Form hatte ich nur fragmentarisch erreicht. Deswegen entstand dann 1985 die Komposition Entartung 2.

© Michael Fahres, August 2010

© Copyright - Michael Fahres